Comeback im Kriechtempo
Der Altwarmbüchener See also, guck an! Ein Ort, um das Laufen neu zu entdecken. Und dafür kann schon eine einzige Runde ausreichen – jedenfalls für Ronald Reng. Es ist ein innerer Jubelschrei, den er nach den 3,6 Kilometern ausstößt. Sechster Platz beim ersten Start bei einem Volkslauf, darüber darf man sich gewiss freuen. Auch wenn es dafür keinen Pokal gibt, geschweige denn eine Medaille. Reng, Kolumnist der HAZ und als Autor sportinteressierten Lesern aufgrund seiner Publikationen rund um den Fußball bestens bekannt, reagiert euphorisch. So, als habe er etwas Wichtiges wiedergefunden, das ihm über die Jahre abhanden gekommen war: „Ich kann wieder laufen“, frohlockt er.
Da fragt man sich: Kann man das Laufen verlernen? Warum lässt man es von heute auf morgen sein? Vor allem dann, wenn einer wie der Autor mit 17 zu den besten Mittelstrecklern in Hessen gehört und die 3000 Meter in wenig mehr als neun Minuten hinter sich bringt. Diese Bahn zu verlassen ist kein Unding, wenn andere Lebensinhalte Priorität bekommen. Für Reng war es das Schreiben. Dass er auch in diesem Fach ein ausgesprochen Guter ist, zeigt der 48-Jährige ein weiteres Mal mit seinem neuen Buch „Warum wir laufen“. Es ist eine persönlich gehaltene Schilderung auch darüber, wie man früheren Ansprüchen vergeblich hinterherrennt und am Ende trotzdem glücklich und zufrieden sein kann. Weil man die Sicht auf die einem einst wichtigen Dinge dieser Welt verändert hat und entspannt damit umgeht. So kann man, abseits von Wettkämpfen, zum Sieger über sich selbst werden.
Reng ist dieser Anlauf schwergefallen, und es hat sehr lange gedauert. In seiner Jugend sei „schnell zu laufen Teil der Faszination“ gewesen. Nach zwölf Jahren als Sportmuffel begibt er sich wieder auf die Suche nach dem schönen Gefühl vom Laufen – und erlebt zunächst eine Enttäuschung nach der anderen. Was er als Erstes empfindet sind Anstrengung, Erschöpfung und Schmerzen. Man leidet mit Reng, wenn er sich in Bozen die Hügel hinauf quält oder plötzlicher Übermut mit einer Sehnenverletzung am Fuß bestraft wird. Er überfordert sich. „Regeneration in der Eisdiele“ ist angesagt, „mit Sahne obendrauf“, wie er augenzwinkernd anmerkt.
Schnell laufen, das war einmal. Jedenfalls nach Rengs Maßstäben als Wiedereinsteiger. Die im Allgemeinen durchaus flotten 5:30 Minuten für den Kilometer bei Dauerläufen, die ihm ein Leistungsdiagnostiker empfiehlt, tut er zunächst als „Kriechtempo“ ab. Irgendwann freundet er sich aber mit der Erkenntnis an, dass Schnelligkeit allein kein Allheilmittel für ein erfolgreiches Comeback als Freizeitläufer ist. Reng nennt das „die Entdeckung der Langsamkeit“. Und dann muss er mit dem „verdammten Pflichtgefühl“ kämpfen, das ihm immer wieder einzutrichtern versucht: „Du musst heute noch laufen.“ Wer kennt das nicht aus eigener Erfahrung.
Es ist nicht nur die gut nachvollziehbare Selbstreflexion, was es einem schwer macht, dieses Buch aus der Hand zu legen. Reng wechselt wiederholt die Perspektive und schlägt einen Bogen zu verwandten Themen. Das ist wie Sahne obendrauf. Sportliche Wegbegleiter von einst wie Jens Harzer, inzwischen Schauspieler, bekommen ebenso ihr Kapitel wie der kauzige Cross-Vizeweltmeister Hans-Jürgen Orthmann oder Teresa Enke. Nach dem Tod ihrer Tochter Lara und ihres Mannes Robert habe ihr das Laufen dabei geholfen, „ein Leben parallel zum Schmerz zu finden“.
Ronald Reng: „Warum wir laufen“. Piper-Verlag. 304 Seiten, 20 Euro.
Wüstensand als Therapie
Ende April geht es wieder los, dieses ferne Spektakel in der Wüste. Unweit von Swakopmund werden sich dann an die 100 Sportler, die sich selbst „frei umherlaufende Irre“ nennen, auf ein 250 Kilometer langes Sechs-Etappen-Rennen durch die Namib machen. Zu einem täglichen Kampf gegen gnadenlose Hitze, unerträglichen Durst, nicht enden wollende Sanddünen und quälende Selbstzweifel. Was es mit dem Sahara Race auf sich hat und wie man diese Tortur überhaupt durchstehen kann, davon bekommt man eine Ahnung, wenn man liest, was Antje Wensel bei diesem größten Abenteuer ihres Lebens selbst erlebt hat. Und man bekommt Respekt vor einer Leistung, die eine Mittdreißigerin bar vieler sportlicher Attribute 2017 in Namibia vollbracht hat.
Es gehört zu den wohl unerklärlichen Phänomenen, warum es einigen nicht genügt, sich ihren Traum vom Marathon erfüllt zu haben. Wensel hatte noch 2014 „mit Laufen nichts am Hut“. Dann begleitete sie ihren Freund zu einem Rennen in die Pfalz und war fasziniert. Es folgten, aus dem Stand, schon wenige Wochen später der erste Zehn-Kilometer-Wettkampf und ein Halbmarathon, typische Anfängerfehler durch Überforderung also. Und nicht nur das: Die Waage zeigte für Wensel damals rund 100 Kilogramm an; trotz des intensiven Trainings für die Marathons in Frankfurt und Rom nahm sie auch danach „an den falschen Stellen“ ab, wie sie es beschreibt. Grund war eine tückische Stoffwechselkrankheit mit dem Fachbegriff Lipödem.
Andere lassen Sport Sport sein, wenn sie von einer solchen Diagnose erfahren. Wensel verordnete sich ihre eigene Therapie: „Jammern ändert gar nichts. Machen alles. Ich will selbst den Sand unter meinen Füßen spüren.“ Erst recht nach einer Begegnung mit Rafael Fuchsgruber, einem erfolgreichen Ultraläufer. Er bestärkte sie darin, es beim Sahara Race schaffen zu können, wurde ihr Mentor – und Buch-Mitautor.
Die 160 Seiten erzählen eine Leidensgeschichte. Es ist zugleich die Erfolgsgeschichte einer Frau, die sich nicht unterkriegen lässt. Nicht von ihrer Krankheit, nicht von ihrem „Gewichtshandicap“, wie sie die überzähligen Pfunde an Hüfte und Beinen beschreibt, und nicht vom neun Kilogramm schweren Rucksack samt Schlafsack und Trockennahrung, den sie mit durch die Namib-Wüste schleppen muss. „Ich war selten in meinem Leben so glücklich“, sagt sie, als sie nach sechs Etappen ihr Ziel erreicht hat.
Antje Wensel/Rafael Fuchsgruber: „Du kannst, wenn du willst. Mein schwerer Weg zur Ultraläuferin.“ Delius Klasing Verlag. 160 Seiten, 22,90 Euro.