Dies könnte auch eine Leidensgeschichte sein. Eine, die von der ein halbes Jahr dauernden Laufpause im Jahr 2016 handelt, weil die rechte Achillessehne permanent auf Schmerz programmiert war. Und davon, dass – als die Sache endlich ausgestanden war – das nächste Unheil prompt seinen Lauf nahm: Bandscheibenvorfall an Weihnachten. Eine schöne Bescherung, vielen Dank auch, lieber Rücken. Verbunden wenig später mit der dringenden ärztlichen Empfehlung, das Laufen mindestens acht Wochen sein zu lassen.
Inzwischen haben wir Mai, aus den acht Wochen sind 16 geworden; die Laufschuhe langweilen sich im Regal weiterhin zu Tode. Zum Hannover-Marathon 2017 gab es gar ein Jubiläum: ein Jahr ganz ohne Wettkampf. Es ist zum Verrücktwerden. Und an der Zeit, etwas anderes auszuprobieren anstelle des erklärten Lieblingssports. Rauf aufs Rennrad!
Um nicht ganz einzurosten. Und weil diese andere Form der Fortbewegung auch nicht schaden soll, wie der Arzt mit Blick auf meinen speziellen Fall meint. Man könne Gelenken, Bändern und Sehnen damit sogar etwas Gutes tun. Überhaupt: Wollten wir nicht immer schon ein kleiner Held im Rennsattel sein? Es muss ja nicht gleich so weit führen wie einst bei Jan Ullrich. Und es muss auch nicht der legendäre Aufstieg nach L’Alpe d’Huez sein, den wir uns vornehmen wollen. In unserem Alter ist man doch schon froh, wenn man den Nienstedter Pass hinaufkommt, ohne das Rad schieben zu müssen. Sagen wir es so: Eine unvermeidliche Laufpause kann auch eine neue Herausforderung mit sich bringen. Und den sportlichen Horizont erweitern. So geschehen am 29. April. Der Tatort: Laatzen. Das Stichwort: Radtourenfahrt (RTF) des Stahlradvereins von 1897. Das Motto: ankommen und Spaß haben bei dieser Radsportveranstaltung für jedermann.
Der Unterschied: Im Gegensatz zu den anderen rund 260 Pedaleuren, die sich am Start eingefunden haben, trete ich zu meiner allerersten RTF an und verspüre eine gewisse Aufregung. So ähnlich war es seinerzeit bei meinem ersten Zehn-Kilometer-Wettkampf 2003 am Mittellandkanal. Dabei spielt diesmal weder die Zeit noch die Platzierung eine Rolle, obwohl auch in Laatzen jeder Teilnehmer eine Startnummer erhält. Bei einer RTF zählen andere Kriterien. Etwa die Möglichkeit, sich unterwegs kurzfristig entscheiden zu können, welche Strecke man zurücklegen möchte. Sollen es, wie in Laatzen, etwa 45 sein? Oder 115? Man muss nur rechtzeitig abbiegen.
Die Aufregung legt sich spätestens, als ich bei der Anmeldung auf Volker treffen, einen Laufkumpel aus besseren sportlichen Tagen. Inzwischen sind wir Leidensgefährten; Volker ist im Herbst 2015 das letzte Mal gelaufen. Den 52-Jährigen, der den Marathon schon knapp unter drei Stunden vollendet hat, bremst seitdem eine Schambeinentzündung aus. Doch auch bei ihm gilt zum Glück: Radfahren geht! Gewandelt hat sich die Einstellung zum Sport selbst: Er schaue längst nicht mehr auf die Uhr, wenn er im Sattel sitzt. Und wenn ihn andere bei einer RTF überholen oder mit großem Abstand vorneweg fahren, dann ist das eben so. Er wolle links und rechts der Strecke was sehen und Spaß haben, sagt Volker.
Den haben wir, als es zusammen hinausgeht aus Laatzen und wir Orte passieren, deren Namen – das sei zu meiner Schande eingestanden – ich zuvor nie vernommen habe: Lühnde, Clauen, Oedelum oder Hüddessum. Als Läufer hätte ich die nie kennengelernt. Zusammen mit Iris bilden wir die Nachhut des Feldes, das längst über alle Berge ist, als wir uns Müllingen nähern. Denn so eilig wie die meisten anderen haben wir es nicht. Wir genießen die klare Luft und den Sonnenschein, gönnen uns immer wieder einen Blick auf die gelben Rapsfelder und machen auf unserer 83 Kilometer langen Runde, der mittleren Tour, Halt an den zwei Kontrollstellen. Hier gibt es von den Stahlrad-Leuten nicht nur einen Stempel auf die Startunterlage, der das Vorbeikommen dokumentiert. Auf der Tafel liegen Bananen, Äpfel, Kekse und frisch geschmierte Schmalz- und Nutellabrote parat – selbst schuld, wer da nicht zugreift und sich für die kommenden Kilometer stärkt.
Es läuft erstaunlich gut. Nach zwei Dritteln der Strecke melden sich kurzzeitig die Oberschenkel. Als wollten sie signalisieren: Du bist doch sonst noch nie mehr als 60 Kilometer gefahren, mach mal langsam Schluss. Doch wir strampeln uns zu dritt weiter ab und stemmen uns gegen den starken Wind. Am Ende sind wir gut drei Stunden unterwegs gewesen auf der freudbetonten Tour. Eigentlich gar nicht so schlecht für den Anfang.
Und nun? Die Bandscheiben scheinen nach Monaten der Qual endlich Frieden geben zu wollen, schon vor der RFT. Wurde ja auch Zeit. Diese Woche steht der nächste Arztbesuch an, das Lauf-Comeback könnte nahen. Doch geplant wird vorerst zweispurig, man muss ja das eine nicht gleich wieder sein lassen, wenn einem auch das andere gefällt. Am 30. Juli gibt es in Hannover ein Radrennen mit dem schönen Namen ProAm. Eins für jedermann, 114 Kilometer lang – und über den Nienstedter Pass. Man könnte es ja mal versuchen. Ohne Schieben bergauf und nach ein paar weiteren RTF. Haben (Rad)Rennen und Laufen ohnehin nicht was gemein?